Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Der ökonomische Ansatz in den Sozialwissenschaften I


1988 (10) Issue 2

Editorial

Die Überzeugungskraft und der Erfolg des ökonomischen Ansatzes ist wesentlich verbunden mit seinem methodologischen Individualismus und seiner Theorie der rationalen Entscheidung: 1. Komplexe soziale Tatsachen werden erklärt durch Zurückführung auf ein einheitliches Fundament, dessen elementare Bedeutung für jedermann nachvollziehbar ist: auf individuelle Entscheidungen, die Menschen in bestimmten Situationen zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten treffen. 2. Diese Entscheidungen werden mit einem auf den ersten Blick einfachen und überzeugenden Modell analysiert. Wichtiger Bestandteil dieses Modells ist die Annahme, daß rationale Menschen sich für diejenige Alternative entscheiden, die ihren eigenen Interessen am meisten dient und ihnen den größten Nutzen verspricht.

Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß Menschen in Situationen kommen, in denen sie sich entscheiden müssen, und daß sie dabei nicht selten vor allem im wirtschaftlichen Bereich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Der ökonomische Ansatz sah sich deshalb auch keiner umfassenden Kritik ausgesetzt, solange er sich auf den Gegenstand beschränkte, für den er ursprünglich entwickelt wurde: Handeln und Entscheiden auf dem wirtschaftlichen Markt. Dieses Wohlwollen verringerte sich allerdings drastisch, als Ökonomen in Erneuerung der Tradition der klassischen Politischen Ökonomie ihre Aufmerksamkeit wieder verstärkt den institutionellen Rahmenbedingungen zuwandten, unter denen die Mitglieder einer Gesellschaft ihre individuellen Entscheidungen treffen müssen. Damit trat man in offene Konkurrenz mit anderen sozialwissenschaftlichen Ansätzen.

In den Augen der Kritiker verwandelte diese Expansion die Vorzüge des ökonomischen Ansatzes in Schwächen. Das individualistische Fundament erschien vielen als zu schmal; das Verhaltensmodell des homo oeconomicus als zu simpel: Zum einen bezweifelte man die Realisierbarkeit des ökonomischen Erklärungsprogramms, die institutionellen Rahmenbedingungen individueller Entscheidungen, wie vor allem die Wirtschafts- und Rechtsordnung einer Gesellschaft, selbst auf solche individuellen Entscheidungen zurückzuführen. Zum anderen bestritt man die Allgemeingültigkeit des ökonomischen Modells rationaler Entscheidung und seine Anwendbarkeit auf Handlungen außerhalb des wirtschaftlichen Bereichs. Menschen seien nur einer begrenzten Rationalität fähig und würden sich in vielen Fällen auch nicht an ihren Eigeninteressen, sondern an altruistischen Motiven, ideellen Werten oder moralischen und sozialen Normen orientieren.

Auf diese Kritik reagieren die Vertreter eines ökonomischen Ansatzes mit einer defensiven und einer offensiven Strategie. Die defensive Strategie besteht in einer Revision des ökonomischen Forschungsprogramms, etwa indem der Anspruch auf universelle Anwendbarkeit zumindest teilweise wieder zurückgenommen wird oder indem man das Modell des homo oeconomicus so verändert, daß es begrenzte Rationalität oder altruistische und moralische Handlungsorientierung umfaßt. Bei der offensiven Strategie wird dagegen versucht, den Kern des ökonomischen Ansatzes nicht anzutasten, sondern individualistische Erklärungen für gesellschaftliche Institutionen konkret zu entwickeln oder zu zeigen, daß auch begrenzt rationales, normorientiertes, altruistisches oder moralisches Handeln Phänomene sind, die bei genauerer Analyse als Ergebnis von nutzenmaximierenden, rationalen Entscheidungen erklärt werden können.

Die Aufsätze in diesem und dem folgenden Heft von ANALYSE & KRITIK repräsentieren in diesem Sinne jeweils unterschiedliche Reaktionen. Eine allgemeine Einführung in das Thema bietet der Beitrag von Gebhard Kirchgässner. Er skizziert die Grundlinien der Entwicklung der ökonomischen Theoriebildung in den letzten beiden Jahrzehnten und stellt an exemplarischen Beispielen Ergebnisse der Anwendung des ökonomischen Ansatzes in anderen Sozialwissenschaften dar, wobei er aber auch vor einer unreflektierten Ausweitung dieses Anwendungsbereiches warnt. Viktor Vanberg und James M. Buchanan geht es um den Nachweis, daß Entstehung und Befolgung einer moralischen Ordnung im Rahmen des ökonomischen Ansatzes erklärbar sind. Zu diesem Zweck wollen sie zeigen, daß sowohl die soziale Etablierung bestimmter moralischer Normen als auch die freiwillige Orientierung an ihnen als rationale Entscheidungen im Sinne des ökonomischen Modells verstanden werden können. Im Gegensatz zu dieser offensiven Strategie will Karen I. Vaughn der Anwendung des ökonomischen Verhaltensmodells deutliche Grenzen ziehen. Insbesondere im Hinblick auf politisches Handeln und Entscheiden hält sie es für unbestreitbar, daß Menschen in erheblichem Maß durch moralische und ideologische Überzeugungen beeinflußt werden und dieser Einfluß im Rahmen des ökonomischen Ansatzes nicht angemessen zu erfassen ist. Weniger für eine Einschränkung seines Anwendungsbereichs als für eine Revision bzw. Erweiterung des ökonomischen Modells menschlichen Verhaltens plädiert Bruno S. Frey. Gestützt auf eine Fülle von psychologischen Erkenntnissen bezweifelt er vor allem, daß die Entscheidung von Individuen als rationale Wahl unter objektiv vorgegebenen Handlungsalternativen verstanden werden kann. Der abschließende Beitrag von Jan Narveson, der inhaltlich noch einmal an das Schwerpunktthema des letzten Jahrganges anknüpft (vgl. ANALYSE & KRITIK 1+2 /87), belegt anhand der konkreten Frage, ob die Strategie der atomaren Abschreckung ethisch zu rechtfertigen ist, daß die Entscheidung für bestimmte moralische Normen das Ergebnis einer rationalen Abwägung im Sinne des ökonomischen Modells sein kann.

Less →

Table of Contents

Title: Die neue Welt der Ökonomie
Author: Gebhard Kirchgässner
Page: 107-137

Abstract: The article starts out with a sketch of the model of individual behaviour, basic for modern economic theory, including the consideration of typical criticisms. The model then is examined in its application first to micro- and macroeconomic theorizing, then to the economic analysis of politics and of law. It concludes by pointing out some drawbacks inherent in the economic approach to the social sciences: economic imperialism, conservativism and the illusion of manageability.

Title: Rational Choice and Moral Order
Author: Viktor Vanberg / James M. Buchanan
Page: 138-160

"The problem which science has to solve here consists in the explanation of a social phenomenon, of a homogeneous way of acting on the part of the members of a community for which public motives are recognizable, but for which in the concrete case individual motives are hard to discern." (Carl Menger 1985, 152)

Abstract: The article discusses some of the fundamental conceptual and theoretical aspects of rational choice and moral order. A distinction is drawn between constitutional interests and compliance interests, and it is argued that a viable moral order requires that the two interests somehow be brought into congruence. It is shown that with regard to the prospects for a spontaneous emergence of such congruence, a distinction between two kinds of moral rules which we call trust-rules and solidarity-rules is of crucial importance.

Title: The Limits of Homo Economicus in Public Choice and in Political Philosophy
Author: Karen I. Vaughn
Page: 161-180

Abstract: his paper argues that there are areas of political behavior for which the usual assumption of wealth maximizing homo economicus is to narrow to generate convincing explanation of behavior. In particular, it is argued that for many political decisions, people choose according to some set of moral preconceptions while for others, people have insufficient information to make economic choices even if they were inclined to do so. This implies that normative public choice can only be part of a political decision process in which non-pecuniary concerns influence choices. Finally, constitutional economics insofar as it is conceptually conceived, must presume some set of moral and informational properties of the parties to the social contract.

Title: Ein ipsatives Modell menschlichen Verhaltens. Ein Beitrag zur Ökonomie und Pyschologie
Author: Bruno S. Frey
Page: 181-205

Abstract: Human beings under some conditions tend to systematically overestimate their possibilities, under others to underestimate what is possible for them. This behaviour can be explained by differentiating between an ipsative possibility set (which includes what individuals consider relevant for themselves) and an objective one. These two possibility sets do not necessarily coincide. The difference may firstly be due to psychological processes as well as factors such as tradition and ideology. The difference may secondly be strategically designed by the individuals themselves knowing that they otherwise reach less utility. The approach stresses that it is essential to determine the possibility sets within which individuals rationally decide between alternatives.

Title: Reason and Morality in the Age of Nuclear Deterrence
Author: Jan Narveson
Page: 206-232

Abstract: The argument in this paper is that althaugh rationality and morality are distinguishable concepts, there is nevertheless a rational morality, a set of principles, namely, which it is rational of all to require of all. The argument of this paper is that such a morality would certainly issue in a general condemnation of aggressive war. (Whether this also makes it irrational for States to engage in such activities is another, and not entirely settled, matter.) Correlatively, it would issue in a strong right of defense. Would this right be sufficient to include resort to nuclear deterrence, if need be? It is argued that the answer must be in the affirmative - although the question of 'need' is by no means settled in current circumstances.