Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Entscheidung durch Diskurs


1996 (18) Issue 2

Editorial

In jeder Gesellschaft müssen kollektive Entscheidungen gefällt werden, die nicht für alle Betroffenen in gleichem Maße Vorteile bringen und die Lasten auf sie nicht in gleicher Weise verteilen. Exemplarisch hierfür stehen Entscheidungen im Umweltbereich, bei denen etwa über den Standort einer Abfalldeponie befunden werden muß. Gemäß dem Ideal der Demokratie sollten es die Bürger selbst sein, die solche Entscheidungen fällen. Die Umsetzung dieses Ideals in die Praxis ist aber selten vollkommen: Sowohl in der repräsentativen als auch in der direkten Demokratie gilt in der Regel das Mehrheitsprinzip. Selbstbestimmung ist so nur für die jeweils obsiegende Mehrheit gewährleistet. Die unterliegende Minderheit muß sich einer Entscheidung fügen, die sie ausdrücklich ablehnt. Entscheidungen, die auf einem Konsens beruhen, erscheinen von daher vorzugswürdig. Es kommt hinzu, daß nach der Einschätzung vieler Bürger bei Umweltproblemen existentielle Interessen und Werte auf dem Spiel stehen können. Sie sind dann nicht mehr bereit, die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen vorbehaltlos anzuerkennen. Die Suche nach konsensorientierten Entscheidungsverfahren hat deshalb Konjunktur. Sie wird zusätzlich motiviert durch sozialwissenschaftliche Theorien, für die ein Konsens aus prinzipiellen Gründen ein hohes Gut darstellt.

In der heutigen Diskussion werden vor allem zwei ernst zu nehmende Kandidaten für ein konsensorientiertes Entscheidungsverfahren erörtert: Das ökonomisch inspirierte Modell des Interessenausgleichs und das philosophisch inspirierte Modell des Diskurses. Das ökonomische Modell strebt an, den durch eine Entscheidung produzierten Gesamtnutzen so zu verteilen, daß entstehende Kosten kompensiert werden und damit jeder Betroffene einen rationalen Grund hat, der Entscheidung zuzustimmen. Dieses Modell geht von gegebenen Präferenzen und Interessen aus. Das Diskursmodell behandelt die vorhandenen Präferenzen dagegen als veränderlich. Mit dem für einen Diskurs typischen rationalen Austausch von Argumenten soll eine Neuformierung auch der Präferenzen und Interessen der Beteiligten erreicht werden. Ein Konsens entstünde dann nicht als Ergebnis von Kompensation und Kompromiß, sondern von gegenseitiger Überzeugung und Präferenzänderung. Dafür sind Rahmenbedingungen nötig, unter denen die am Diskurs Beteiligten motiviert sind, auf die Durchsetzung ihrer individuellen Interessen zu verzichten. An die Stelle eines 'strategischen' soll ein 'verständigungsorientiertes' Verhalten treten.

Dieses und das nächste Heft von ANALYSE & KRITIK sind der Auseinandersetzung mit konsensorientierten Entscheidungsverfahren gewidmet. Im vorliegenden Heft steht der Diskurs im Vordergrund. Es wird eröffnet mit dem Artikel von Ortwin Renn und Thomas Webler, in dem sie das Modell des von ihnen entwickelten 'kooperativen Diskurses' vorstellen. Sie vergleichen dieses Modell mit anderen Verfahren der Konfliktlösung, erläutern die wichtigsten Anforderungen, denen eine diskursive Entscheidungsfindung genügen muß, und stellen dar, wie sich der kooperative Diskurs in einem tatsächlichen Beispielfall bewährt hat.

Rudolf Schüßler kritisiert an dem Modell von Renn und Webler, daß in der Konzeption des kooperativen Diskurses das Ziel der Konfliktvermeidung unausgewogen im Vordergrund stehe. Die gezielte Veränderung konfliktträchtiger Präferenzen oder der Verzicht auf Kompensation seien jedoch keineswegs per se wünschenswert. Stattdessen könnten ökonomische Konfliktlösungs- und Kompensationsmodelle einem Diskursverfahren sogar nach moralischen Kriterien überlegen sein.

Reiner Eichenberger zieht in Zweifel, ob der in Diskursen realisierbare Konsens dauerhaft und stabil sein kann. Er weist darauf hin, daß im kooperativen Diskurs keine politisch und rechtlich verbindlichen Entscheidungen gefällt werden. Dann sei es aber auch nicht weiter erstaunlich, daß die Beteiligten keine starken Neigungen zu einem interessenorientierten und damit konfliktträchtigen Verhalten zeigten. Das würde sich jedoch in dem Moment ändern, in dem Diskurse als Verfahren der verbindlichen Entscheidungsfindung institutionalisiert würden.

In dem Artikel von Felix Oberholzer-Gee werden die Bedenken von Eichenberger teilweise untermauert. Die von ihnen durchgeführten empirischen Erhebungen zeigen, daß die Bürger von Schweizer Gemeinden, in denen das Diskursverfahren zur Suche nach einem geeigneten Deponiestandort praktiziert wurde, sich nicht sonderlich um dieses Verfahren und seine Ergebnisse kümmerten. Diese Ignoranz ist insofern rational begründet, als in der direkten Demokratie der Schweiz die Entscheidungskompetenz ohnehin bei den Gemeindeversammlungen liegt. So verdankt sich auch die auf den ersten Blick erstaunliche Konsensbereitschaft unter den Teilnehmern des Diskurses möglicherweise mehr der Unverbindlichkeit des Diskurses als der Aufgabe oder Umformung individueller Interessen.

Unser Freund und Kollege Felix Oberholzer-Gee hat an diesem und dem nächsten Heft von ANALYSE & KRITIK als Gastherausgeber mitgewirkt. Wir bedanken uns für seine kompetente Arbeit und sein enttäuschungsfestes Engagement.

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Table of Contents

Title: Der kooperative Diskurs: Grundkonzeption und Fallbeispiel
Author: Ortwin Renn / Thomas Webler
Page: 175-207

Abstract: Complex modern societies require new ways of political conflict solution, especially concerning environmental conflicts. We distinguish six forms of conflict solution, including those of mediated bargaining and cooperative discourse. If one opts for cooperative discourse, further orientation according to criteria such as fairness, competence, legitimation and efficiency seems to be important. Three procedural steps within cooperative discourse - i. e. establishing relevant value attitudes, expert-hearings, evaluation of options by citizen panels - are sketched and critically discussed, making use of experience from recent discoursive siting panels in Switzerland and Southern Germany. With the exception of a legitimatory deficiency (which may be improved) cooperative discourse and citizen participation in environmental decision-making turn out to be most promising.

Title: Licht und Schatten des Diskurses. Bemerkungen zur diskursiven Lösung von Konflikten
Author: Rudolf Schüßler
Page: 208-224

Abstract: As a consequence of the world's present ecological crisis, the potential for political protest has increased and a demand for technologies of conflict resolution has arisen. One method, favored by Ortwin Renn, applies the ethics of open discourse to negotiations between politicians, experts, and citizens. The ethical appeal of this method can easily lead to an undervaluation of its shortcomings and risks - a problem which I will try to help amend in this article. Above all, it has to be noticed that the participation in open discourse can tranquilize grass-root protests even in areas where the willingness to engage in a compromise might hurt the true public interest. And who should choose which technology of conflict resolution is applied? The citizens themselves and not just the experts of discourse should probably decide.

Title: Ein politisch-ökonomischer Blick auf Diskurse. Kooperativ beim Aperitif - mit Interessen zum Essen
Author: Reiner Eichenberger
Page: 225-244

Abstract: Cooperative discourse procedures produce consensual siting proposals for NIMBY-projects-but only if these proposals do not affect the final siting decision. Then, the members of the discourse commissions stay independent and face few incentives to pursue consequentialist interests. However, the more influential discourse procedures become, the stronger the interest groups, incentives are to take advantage of them. Thus, cooperative discourses turn into competitive, interest-centred procedures whose outcome is rejected by the less influential groups. The evolution, of discourse procedures into functionally specialized parliaments or even into FOCJ (Functional, Overlapping, Competing Jurisdictions) seems worth pursuing.

Title: Diskursverfahren: Liebe auch auf den zweiten Blick?
Author: Felix Oberholzer-Gee / Isabelle Vautravers-Busenhart / Armin Falk / Jürg de Spindler
Page: 245-264

Abstract: Discourse-based processes seek to arrive at socially acceptable decisions by adhering to a specific set of procedures. In this case study, we empirically test how successful the 'Cooperative Discourse' was in identifying a socially acceptable site for a solid-waste landfill in Switzerland. Our results indicate that even individuals living in the community designated as the prospective site think highly of the 'Cooperative Discourse', but they know close to nothing about this procedure. This ignorance is rational, because, under Swiss laws, the recommendations of the discourse are not legally binding and siting projects can easily be thwarted by town hall meetings. In this case, the 'Cooperative Discourse' may have reached a consensus proposal because this proposal is socially not very relevant.