Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Rechte / Rights


1995 (17) Issue 1

Editorial

Kaum eine andere soziale Tatsache ist prägender für das Leben der Menschen in den heutigen Demokratien und Verfassungsstaaten als die Existenz verbürgter Rechte. Der Kern dieser Rechte besteht in der Garantie grundlegender individueller Freiheiten. Sie gewähren einen persönlichen Autonomiebereich, der vor Eingriffen und Ansprüchen anderer Individuen und der Gemeinschaft prinzipiell geschützt ist. Für viele Menschen in der westlichen Welt sind individuelle Rechte zu selbstverständlichen Rahmenbedingungen ihres Lebens geworden. Diese Entwicklung wurde allerdings nicht begleitet von einem wachsenden Verständnis für das Wesen und die Bedeutung individueller Rechte. Im Gegenteil führte sie zu einer gewissen Gleichgültigkeit: Warum sollte man darüber grübeln, was Rechte eigentlich sind, oder über ihre Rechtfertigung nachdenken, wenn ihre Existenz faktisch nicht gefährdet erscheint und normativ nicht angezweifelt wird?

Diese Sicherheit ist in den letzten Jahren gewichen. Die Herausforderungen sind politischer und theoretischer Natur. Weltanschauliche Auseinandersetzungen und fundamentalistische Angriffe auf liberale Prinzipien machen deutlich, daß individuelle Freiheitsrechte nicht einfach als Ausdruck universell gültiger Präferenzen und Interessen interpretiert werden können. Wer für liberale Rechte eintritt, der gibt der eigenen Freiheit Vorrang vor der Durchsetzung seiner Ziele anderen gegenüber. Diese Rangordnung wird keineswegs von allen Menschen geteilt. In der Sozialphilosophie gewinnen Positionen an Bedeutung, die dem Kollektiv gegenüber dem Individuum wieder mehr Gewicht verleihen möchten. Zu große Freiräume für die Verfolgung persönlicher Ziele würden Egoismus erzeugen und Gemeinsinn zerstören. Mit der Betonung der notwendigen "Einbettung" des einzelnen in eine Gemeinschaft stehen aber auch die klassischen liberalen Rechte zur Disposition.

Angesichts dieser Situation kann man es sich nicht mehr leisten, Begriff und Begründung von Rechten weiterhin in der Grauzone derjenigen Phänomene zu belassen, die ob ihrer fraglosen Existenz keiner Aufmerksamkeit wert erscheinen. Die sozialphilosophische Diskussion über Rechte hat in den letzten Jahren einen entsprechenden Aufschwung genommen. Die Beiträge in diesem Heft machen deutlich, daß dabei sowohl Fragen grunsätzlicher Natur als auch anwendungsbezogene Probleme zu behandeln sind.

Am Anfang des Heftes stehen zwei Artikel von Hillel Steiner. Der erste Artikel erläutert den für Steiners Konzeption zentralen Begriff der "compossibility" von Rechten: Demnach muß ein rationales System von Rechten so gestaltet sein, daß die komplementären Pflichten konfliktfrei erfüllt werden können. Die Erfüllung einer Pflicht darf die Erfüllung einer anderen Pflicht nicht unmöglich machen. Diese Vereinbarkeit von Rechten soll dadurch garantiert werden, daß ihnen genau spezifizierte und voneinander abgegrenzte Verhaltensbereiche zugeordnet werden. Steiners zweiter Artikel wendet den Rechtsbegriff des Liberalisimus auf das Problem des Nationalismus und das Verhältnis zwischen Nationen an. Auf der Grundlage liberaler Rechte lassen sich Steiner zufolge sowohl Kriterien nationaler Zugehörigkeit und die Grenzen nationaler Rechtsprechung bestimmen als auch Maßstäbe internationaler Verteilungsgerechtigkeit entwickeln.

Ulrich Steinvorths Beitrag kommentiert einige zentrale Aspekte von Steiners Rechtskonzeption. Erörtert werden vor allem Steiners Verteidigung einer rein negativ verstandenen Freiheit, sein Plädoyer für ein gleiches Recht auf natürliche Ressourcen sowie seine Auseinandersetzung mit dem Problem des Eigentumrechts an der eigenen Person.

Rex Martin argumentiert dafür, daß zwischen individuellen Freiheitsrechten und einer legitimen demokratischen Mehrheitsherrschaft kein Spannungsverhältnis besteht, sondern daß sie sich wechselseitig stützen, weil sie eine gemeinsame Rechtfertigungsbasis haben. Martin diskutiert anschließend die Frage, welches Prinzip ökonomischer Verteilungsgerechtigkeit einem System demokratischer Rechte angemessen ist.

Guido Pincione setzt sich mit dem Versuch auseinander, liberale Rechte mit rein philosophischen, deontologischen Argumenten zu begründen, ohne die empirischen Annahmen sozialer oder ökonomischer Theorien heranzuziehen. Pincione vertritt den Standpunkt, daß dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Er schlägt seinerseits eine Rechtfertigungsstrategie in einem konsequentialistischen Rahmen vor, der allerdings als "pluralistisches" System nicht-konsequentialistischen Intuitionen angemessen Raum geben soll.

Horacio Spectors Gegenstand ist die kommunitaristische Forderung nach kollektiven Rechten. Spector kommt zu dem Ergebnis, daß solche Rechte weder als moralische noch als rechtlich institutionalisierte Rechte legitimiert werden können. Ihre Einführung würde zu gravierenden Konflikten mit weit verbreiteten ethischen Intuitionen führen.

Paula Casal und Andrew Williams untersuchen die Beziehung zwischen dem Recht auf Entscheidungsfreiheit bei der Kinderzeugung und einer egalitären Sicht von Verteilungsgerechtigkeit. Sie gehen aus von einem rechtlich verbürgten Elternrecht, die Größe einer Familie frei von strafrechtlichen Sanktionen bestimmen zu können. Gerechtigkeit verlange jedoch nicht, Eltern zu subventionieren, wenn sie mit ihren Kindern ein öffentliches Gut bereitstellen. Es könne aber zulässig sein, sie zu besteuern, wenn sie durch ihr Zeugungsverhalten zu einem öffentlichen Übel beitragen.

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Table of Contents

Title: Rational Rights
Author: Hillel Steiner
Page: 3-11

Abstract: A rational moral code must satisfy the condition of completeness. This same condition applies to a set of moral rights, where it takes the form of requiring that all the rights in that set be compossible: that their respective correlatively entailed duties be jointly fulfillable. Such joint fulfillability is guaranteed only by a set of fully differentiated individual domains. And if moral rights are to play any independent role in moral reasoning - any role logically independent of the values that bring persons into conflict - those domains must be determined by rules which are not derived from those values.

Title: Liberalism and Nationalism
Author: Hillel Steiner
Page: 12-20

Abstract: Historically, liberal political philosophy has had much to say about who is entitled to nationhood. But it has had rather less to say about how to determine the legitimate territorial boundaries of nations and even less to say about what some such nations, so situated, might owe to others. The object of this paper is to show that the foundational principles of liberalism can generate reasonably determinate solutions to these problems. That is, the very same set of basic rights that liberalism ascribes to all persons is itself sufficient to determine which nations they are members of, where those nations, legitimate legal jurisdictions are located, and what amounts of wealth they each owe or are owed by other nations.

Title: Steiner's Justice
Author: Ulrich Steinvorth
Page: 21-34

Abstract: Hillel Steiner is a libertarian who takes the equal right to natural resources seriously. Though there are objections to some of the conclusions he draws from this right, his approach might avoid the vices of liberalism and socialism and combine their virtues.

Title: Rights and Distributive Economic Justice
Author: Rex Martin
Page: 35-51

Abstract: The paper has three main sections. The first is concerned with developing the idea of a democratic system of rights. The second section turns, then, to constructing an idea of economic justice suitable to such a system. The paper concludes, in its final section, with a brief reflection on and assessment of the general line of argument taken.

Title: Libertarian Rights within Pluralistic Consequentialism
Author: Guido Pincione
Page: 52-66

Abstract: This essay questions the self-sufficiency of abstract, non-consequentialist, principles as a defence of a libertarian regime. The argument focuses on the difficulties involved in attempts to defend the priority of negative rights if an attractive conception of freedom and an agent-relative view about our reasons to respect rights are to be upheld. The paper closes by suggesting how libertarianism could gain support from various, and perhaps mutually irreducible and even conflicting, considerations in a wide consequentialist system.

Title: Communitarianism and Collective Rights
Author: Horacio Spector
Page: 67-92

Abstract: The article distinguishes metaphysical from practical communitarianism. Metaphysical communitarianism is alleged to involve a concealed ideological element, which leads its adherents to stereotypes when trying to capture the essence of the modem self. The claim is examined that minorities, or other ethnic and cultural groups have collective rights, either moral or legal in nature. Justifications of collective rights resorting to the value of cultural identity are said to be in need of explaining why the case protecting such value is through rights. It is argued that practical communitarianism's case for collective rights needs embracing meta-normative and normative relativism, whose application to political action yields consequences at odds with widespread ethical intuitions.

Title: Rights, Equality and Procreation
Author: Paula Casal / Andrew Williams
Page: 93-116

Abstract: Individual decisions about how to exercise the legal right to procreative liberty may generate either positive or negative externalities. From within a resource egalitarian perspective, such as that of Ronald Dworkin, it can be argued that procreative justice is asymmetric in the following respect. Justice need not require that parents be subsidised if they produce a public good, yet its ideal achievement may require their activities be taxed if they threaten to produce a public bad.