Analyse & Kritik

Journal of Philosophy and Social Theory

Kompensation oder Überzeugung?


1997 (19) Issue 1

Editorial

In diesem und dem vorhergehenden Heft von ANALYSE & KRITIK werden konsensorientierte Entscheidungsverfahren erörtert. Das Interesse an solchen Verfahren erklärt sich aus der Problematik kollektiver Entscheidungen, durch die - exemplarisch im Umweltbereich - Vorteile und Lasten unter den Betroffenen in ungleicher Weise verteilt werden. Mehrheitsentscheidungen sind unter solchen Bedingungen nicht immer optimal. Das gilt besonders dann, wenn existentielle Interessen und zentrale Werte involviert sind und eine unterliegende Minderheit nicht mehr ohne weiteres bereit ist, das Votum der Mehrheit anzuerkennen.

Im letzten Heft von ANALYSE & KRITIK stand der Diskurs als Modell für ein konsensorientiertes Entscheidungsverfahren im Vordergrund. In einem Diskurs soll durch einen rationalen Austausch von Argumenten nicht zuletzt eine Neuformierung der Präferenzen und Interessen der Beteiligten erzielt werden. Auch in diesem Heft beschäftigen sich die Autoren mit dem Diskursmodell. Es werden darüber hinaus aber auch andere Entscheidungsverfahren erörtert, wie das Modell des Interessenausgleichs durch Kompensation. Nach diesem Konzept soll der durch eine Entscheidung produzierte Gesamtnutzen so verteilt werden, daß entstehende Kosten ausgeglichen werden oder sogar ein Vorteil für alle Betroffenen entsteht. Anders als das Diskursmodell geht das Kompensationsmodell von gegebenen Präferenzen und Interessen aus.

In den folgenden Beiträgen werden alternative Entscheidungsverfahren teilweise anhand konkreter Anwendungsfälle diskutiert. Der Aufsatz von Bruno S. Frey bringt dabei eine empirisch fundierte Skepsis gegenüber dem Kompensationsverfahren zum Ausdruck. Überraschenderweise zeigt sich nämlich, daß viele Betroffene eher bereit sind, individuelle Lasten zugunsten des öffentlichen Wohls zu akzeptieren, wenn ihnen keine materiellen Kompensationen angeboten werden. Das Angebot materieller Ausgleiche scheint die Wirksamkeit einer genuin moralischen Motivation in bestimmten Fällen zu unterminieren.

In dem Beitrag von Iris Bohnet werden dagegen Bedenken im Hinblick auf das Diskursverfahren formuliert. Gerade der oft gepriesene Vorzug, daß in einem solchen Verfahren die Eigeninteressen der Beteiligten nur eine geringe Rolle spielen und "strategisches" Verhalten somit zurückgedrängt wird, erweist sich bei näherer Betrachtung als möglicher Nachteil. Bohnet plädiert deshalb für eine Überprüfung und Bestätigung der in Diskursen getroffenen Entscheidungen durch demokratische Verfahren.

Katharina Holzinqer setzt sich in ihrer Analyse ausführlich mit den Möglichkeiten kompensatorischer Regelungen auseinander. Sie untersucht im einzelnen die Auswirkungen, die unterschiedliche Arten von Kompensationen auf die Verteilung von Vor- und Nachteilen von Entscheidungen haben. Anschließend erörtert sie die Beobachtung, daß Kompensationsmodelle bei den Betroffenen nicht selten auf Ablehnung stoßen und erwägt Möglichkeiten, die Akzeptanz von Kompensationen zu erhöhen.

Der Beitrag von Daniel J. Fiorino skizziert zunächst einige konsensorientierte Entscheidungsverfahren, wie sie in den USA praktiziert werden. Fiorino weist besonders auf die Gefahr hin, daß solche Verfahren in einer Sackgasse enden können, wenn sie nicht besondere Vorkehrungen und Restriktionen vorsehen, mit denen die Chance auf eine Einigung erhöht wird. Er schildert zwei jüngere Beispiele für Entscheidungsverfahren, die diese Bedingungen erfüllen.

Eine vorsichtige Verteidigung von Diskursverfahren enthält der Aufsatz von Rainer Döbert. Er legt dar, wie solche Verfahren in der Lage sein können, verbindliche und allgemein konsentierte Entscheidungen hervorzubringen, indem sie die Beteiligten gemeinsam zu rational verbindlichen Schlußfolgerungen motivieren. Allerdings müsse man berücksichtigen, daß rationale Argumentation auf der Ebene politischen Handelns keineswegs immer zu einem Konsens führen wird.

Der abschließende Beitrag von René von Schomberg verstärkt die Forderung einer systematischen Einbeziehung der Betroffenen. Nach seiner Meinung kann eine langfristige Planung, die sich an einem verfassungsrechtlich verankerten Vorsorgeprinzip orientiert, nicht zuletzt durch den öffentlichen Diskurs über anstehende Entscheidungen gestützt werden. Ein solcher Diskurs kontrolliere auch wirksam den Einsatz technologischer Innovationen und sei den jüngeren Versuchen der Einrichtung von Ethikkommissionen und Konsensuskonferenzen überlegen.

Wir danken Felix Oberholzer-Gee, der an diesem und dem vorhergehenden Heft als Gastherausgeber maßgeblich beteiligt war.

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Table of Contents

Title: Unerwünschte Projekte, Kompensation und Akzeptanz
Author: Bruno S. Frey
Page: 3-14

Abstract: Democracies find it difficult, and sometimes impossible to get through projects desired by a large share of the population because these are strongly opposed by local residents (NIMBY: Not In My Back Yard). As a solution for these conflicts economists proposed offering (monetary) compensation to the citizens of the host community. Experiences with many different projects and countries reveal, however, that monetary payments are incapable of solving the NIMBY-problem. A monetary offer to accept an otherwise undesired project undermines civic virtue. This crowding-out effect is empirically demonstrated using the search for a nuclear repository in Switzerland. A satisfactory strategy to overcome the NIMBY-problem takes into account the procedure, the time sequence, as well as the type of compensation offered.

Title: Diskurs - die Protektion der Kommunikation
Author: Iris Bohnet
Page: 15-32

Abstract: The goal of discourse-based decision-making is to free negotiations from self-interested, strategic interactions. In this paper it is argued that the absence of interests may lead to both efficiency losses and redistribution between participants of the discourse and outsiders. The latter effect is the stronger, the more personal relationships between discourse participants become. Therefore, it is essential to validate the recommendations arrived at in discourses in democratic decision-making processes that are driven by competition between different points of views and interests.

Title: Kompensationen in alternativen Konfliktregelungsverfahren
Author: Katharina Holzinger
Page: 33-63

Abstract: In many cases collectively desirable projects can be carried out only after considerable social conflict because the unequal distribution of burden and benefit from such projects leads to local opposition. From an economic perspective this problem can (and should) be resolved by compensating those who are negatively affected, Using a fictitious example, the author demonstrates that compensation packages will (a) increase the collective welfare, (b) have a positive redistributive effect, and (c) contribute to unblocking negotiation standstills that result from local veto, In actual practice, however, compensation offers will often be rejected by those affected. In order to increase the acceptability of compensation, it is important that all the possibilities to limit and restitute damage be explored before consideration is given to acceptable forms of substitution or compensation, The search for adequate means of substitution and compensation requires the inclusion of all parties affected. Therefore alternative dispute resolution provides an ideal framework for such a process.

Title: Regulatory Policy and the Consensus Trap: An Agency Perspective
Author: Daniel J. Fiorino
Page: 64-76

Abstract: Regulatory agencies in the United States have relied increasingly on consensus-based decision processes to build public support for their policies. If they are well-designed and managed effectively, consensus-based processes may increase support for an agency's policies and enhance its institutional legitimacy. But poorly-designed processes may lead to a consensus trap, in which an agency commits to making decisions based on a consensus the participants will never be able to achieve, Two recent initiatives of the U. S. Environmental Protection Agency - negotiated rulemaking and the Common Sense Initiative suggest factors that may be associated with more and less sucessful consensus-based processes.

Title: Rationalisierungseffekte durch Diskurse Beobachtungen aus einer Technikfolgenabschätzung
Author: Rainer Döbert
Page: 77-107

Abstract: With steadily accumulating knowledge and increasing differentiation of access to knowledge democracies face the troublesome problem of technocracy. A solution was sought in widened participation without giving up the claim that, rationality, would have a better chance of being realized. New, constructivist, theories renounce this claim on the basis of equally valid, rationalities,. This paper tries to refute this view by specifying the concept of rationality and by analysing discourse mechanisms furthering rationality. This is done by reconstructing some lines of argumentation of a technology assessment of transgenic herbicide-resistant crops. Conclusions arise which are difficult to reject because there is a binding form of rationality at work. But rational argumentation does not guarantee consensus in politicized debates.

Title: Öffentlichkeit als Kontrolle technologischer Innovation. Aspekte langfristiger Planung
Author: René von Schomberg
Page: 108-125

Abstract: In convential democratic decison making, a contradiction has evolved between the demands of long term planning and democratic participation. In this article I will analyse, in how far new modes of decison making, such as national ethics committees, consensus conferences and participatory policy making on the basis of a precautionary principle, has been succesfull in coping with this contradiction. I will conclude that only participatory policy making could meet.